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Drahtseil, Spleißen, Bernoulli-Gleichung – und noch viel mehr
beim 15. FISAT-Technikseminar®  in Wernigerode/Harz


Am 15. und 16. März 2024 waren 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum 15. FISAT-Technikseminar nach Wernigerode gereist, um sich über aktuelle Themen, Herausforderungen, Lösungsansätze und Entwicklungen beim Einsatz seilunterstützter Zugangs- und Positionierungstechniken (SZP) zu informieren und weiterzubilden.

Im großen Saal des HKK Hotels Wernigerode wurden an zwei Tagen Vorträge zu vielfältigen Themen (Produktentwicklung, Produktzulassung, rechtliche Fragen zu Arbeitgeber- und Betreiberpflichten, Drahtseilen, Off-Label-Use, Rettungseinsatz unter Tage, Kopfschutz, Spleißen, Strömungseffekte an Türmen von WEA u.v.m.) angeboten. Darüber hinaus präsentierten 15 Aussteller Ihre Produkte und Dienstleistungen auf der begleitenden Fachausstellung .

Fotos: Holger Lucke, Ralph Sinapius

Unsere Themen am Freitag: Rettung und Rettungskonzept, Produktentwickung bzw. -zulassung aus Herstellersicht, Reibung in Drahtseilen, Kopfschutz und Rotationsbewegungen

Gemeinsam begrüßten Eric Kuhn, Präsident des FISAT, Sven Drangeid, Leiter der Geschäftsstelle des FISAT und Camillo F. Kluge, Chefredakteur des Fachmagazins „Arbeitsschutz - aber sicher!“ sowie Moderator der Veranstaltung, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Freitagmorgen im großen Saal des HKK Hotels Wernigerode.

Der bekannte Fotojournalist, Buchautor und kompetente Geschichtenerzähler Stefan Sobotta, ein ausgewiesener Harz-Experte, ermöglichte es zur Einstimmung allen Anwesenden, gemeinsam in die spannende Geschichte der Harzregion einzutauchen. Er betrachtete dabei das historische Vermächtnis sowie den Wandel der gesamten Region bis in die Gegenwart hinein – speziell im Bezug zum Bergbau.

Dipl. Ing. Harald Dippe, Aufsichtsperson bei der BG Bau, arbeitete in seinem Vortrag „Rettung und Rettungskonzept, grundsätzliche Gedanken“ die Notwendigkeit eines fundierten Plans für den Fall der Fälle heraus. Das Primärziel der DGUV ist im Siebten Buch Sozialgesetzbuch entsprechend an erster Stelle genannt. Erster Abschnitt, §1 „Aufgabe der Unfallversicherung ist es [..] mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten“. Erst im zweiten Punkt des Paragrafen werden dort Rehabilitation und Entschädigungsleistungen aufgeführt. Auch wenn präventive Vorgehensweisen und Ansätze in der betrieblichen Praxis etabliert sind, lassen sich Unfälle leider nicht komplett verhindern.

Von der generellen Betrachtung seines Vorredners führte Carsten Adam, SBS Sicherheitstechnik GmbH, die Zuhörerinnen und Zuhörer ganz konkret zu detaillierten Einblicken in einen speziellen Einsatzbereich: „Ausarbeitung von Rettungskonzepten bei Arbeiten an Masten, Türmen und Schornsteinen im Bereich Mobilfunk“. Dies betrifft nicht nur die passende Rettungsausrüstung sowie die eigentliche Verfahrensweise, sondern auch eine Betrachtung des gesamten Ablaufs. Welche Punkte werden im Notfall in welcher Reihenfolge abgearbeitet und welche Zeiten werden für die einzelnen Rettungsschritte benötigt? Ein Fazit: Für jeden Einsatzort gilt es zu klären, welches Personal für eine effektive Rettung vorgehalten werden muss und wie stark die analysierten Zeiten an den verschiedenen Arbeitsorten an der gleichen Anlage abweichen.

Benjamin Lengronne ist bei PETZL verantwortlich für sämtliche Produkte, die dort für Seilzugangstechnik, Seilklettertechnik oder taktische Einsatzzwecke entwickelt werden. Dies umfasst den kompletten Prozess von der Analyse der jeweiligen Nutzeranforderungen bis zur Erlangung der Marktreife. In seinem englischsprachigen Beitrag gewährte er einen Einblick, wie Hersteller und Zertifizierungsstellen zusammenarbeiten und welche Herausforderungen es bei einer Prüfung durch Dritte zu nehmen gilt. Die Zuhörerinnen und Zuhörer konnten ein Produkt von der Idee, über die Fertigung und die verschiedenen Prüfungen bis hin zur Markteinführung begleiten.

Max Stök von der Technische Universität Clausthal forscht seit 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu kunststoffummantelten Drahtseilen in der Mehrlagenwicklung. Er stellte in seinem Vortrag „Die Reibung in Drahtseilen“ das Drahtseil als ein besonderes Maschinenelement deutscher Ingenieurskunst in den Mittelpunkt: Aufgrund seines Materials kann das Drahtseil hohe Zugkräfte aufnehmen und eignet sich aufgrund der Biegefähigkeit zur Leistungsübertragung. Reibung spielt hierbei an vielen Stellen eine große Rolle: Sie hält das Seil zusammen, ermöglicht den großen Vorteil der Redundanz bei Seilen, die Flexibilität, die Leistungsübertragung und Seilendverbindungen. Die Reibung schädigt gleichzeitig Seile auf so vielfältige Weise, dass diese nicht dauerfest sind, sondern eine begrenzte Lebensdauer haben.

Zum Thema „Kopfschutz: Rotationsbewegungen und Risiken bei der Arbeit in der Höhe“ informierte Thomas Grzybowski, Business Development Manager DACH – Safety beim schwedischen Unternehmen Mips, detailliert und beispielsreich in seiner Präsentation. Bei der Mehrzahl von Unfällen mit Kopfbeteiligung erfolgt der Aufprall nicht exakt senkrecht, sondern in einem anderen Winkel. Dabei können gefährliche Rotationsbewegungen auf den Kopf einwirken. Wie heutige Schutzhelme – auch aus dem Spitzensportbereich – diesem Risiko entgegenwirken und welche technischen Möglichkeiten es gibt, eine solche Rotationsbewegung zu entschärfen, stellte er eindrücklich dar – ebenso den Lösungsansatz von Mips zu der Problematik.

Der Abend wurde von allen Anwesenden zum angeregten Austausch von Erfahrungen, Meinungen und Ideen genutzt.

Von den Mythen im Arbeitsrecht bis hin zur Strömungslehre – Zweiter Tag der Fachveranstaltung

Den Start am Samstag verantwortete sehr souverän und fesselnd zugleich Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich in seinem Beitrag „Mythen und Rechtsrealitäten zu Arbeitgeber- und Betreiberpflichten der Führungskräfte“: Was bedeutet eigentlich schriftliche Pflichtenübertragung? Und wen bringt sie in die Verantwortung? Wen entlässt sie aus derselben? Der Fachanwalt für Verwaltungsrecht mit den Schwerpunkten Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Vertragsrecht und Sicherheitsverantwortung – welche die Haftung von Führungskräften beinhaltet – legte kurzweilig und anhand prägnanter Beispiele dar, wie Verantwortung im Betrieb übertragen werden kann – und wie nicht!

Wie erlangt man eine Europäisch Technische Bewertung (ETA, European Technical Assessment) oder eine allgemeine Bauartgenehmigung für Anschlageinrichtungen zur Benutzung mit Seilzugangs- und Positionierungstechniken? Diese Frage beleuchtete Stephan Bender, Produktmanager bei LUX-top® Fall Protection, im Rahmen seines Vortrages „ETA zertifizierter Abseilpunkt – Zulassung und Prüfung“ näher. Es ist ein langer Prozess von der Produktidee bis zur Zertifizierung, bei dem neben dem Hersteller auch noch Gutachter, Prüfstellen und das DIBt beteiligt sind. Mit dem LUX- top® RGD hat das in Luxemburg ansässige Unternehmen einen zugelassenen Edelstahlabseilpunkt für wärmegedämmte Dächer im Portfolio – mit ETA, aBG und Herstellerfreigabe für SZP.

Ein Seil ist ziemlich nutzlos, wenn es nicht mit irgendetwas verbunden wird! Ob geknotet, vernäht, verpresst, gespleißt und was es sonst noch alles gibt – Endverbindungen sind so alt wie das Seil selbst. Im PSA-Kontext gehört die Endverbindung natürlich zum Seil und die jeweiligen technischen und qualitativen Ansprüche gelten auch hier. Alles leicht vorstellbar mit maschinellen Fertigungsverfahren. Wie sieht es aber aus mit Handarbeit? Ein Spleiß entsteht in Handarbeit. Er bietet viele interessante Vorteile und ist in einigen PSA-benutzenden Industrien auch akzeptiert – in anderen seit Jahren nicht. Interessant genug, um einmal ein bisschen genauer hinzuschauen für Philippe „Phil“ Westenberger, EDELRID GmbH & Co. KG, in seinem Vortrag „PSA in Handarbeit – der Spleiß und andere Lösungen für das älteste Problem des Seils“. Phil Westenberger beschäftigt sich bei EDELRID seit fast zehn Jahren mit der Entwicklung und Herstellung von PSAgA. Der passionierte Vertikalist entdeckte dabei seine besondere Vorliebe für Geflechte. Sein Minimalziel, Menschen davon überzeugen, dass das Wort „weben“ im Zusammenhang mit Seilen nicht korrekt ist, hat er dabei auf dem diesjährigen FISAT-Technikseminar klar erreicht.

Eric Ziegler von der SKYLOTEC GmbH warf mit allen Anwesenden einen Blick in die Bedienungsanleitung und machte auf Probleme beim Verfassen, Lesen und Interpretieren aufmerksam. Er arbeitete in seinem Beitrag „Die Welt der Gebrauchsanleitung – bestimmungsgemäße Verwendung und Off-Label-Use“ das Thema aus drei verschiedenen Blickwinkeln auf, wobei er unterschiedliche Rollen eingenommen hat: „der Kreative“, der Ausrüstung in einer Art und Weise benutzt, für die sie nicht vorgesehen ist, „der Überschreitende“, der Ausrüstung über die Grenzen der Bedienungsanleitung hinaus strapaziert und zuletzt „der Verantwortliche“, der als Hersteller die Verantwortung hat, eine verständliche und ausreichende Gebrauchsanleitung zu liefern. Eric Ziegler ist Ausbilder für SZP nach FISAT und IRATA und hat demzufolge ausreichend Berührungspunkte mit Personen, die im Umgang mit ihrer Ausrüstung gerne mal kreativ sind. Als Fachkraft für Arbeitssicherheit bei SKYLOTEC weiß er aber genauso gut über die Anforderungen an eine fundierte und normgerechte Gebrauchsanleitung Bescheid.

Andy Tauber von der Wismut GmbH nahm alle Anwesenden zu einem ungewöhnlichen und aufwändigen Rettungseinsatz im Altbergbau mit unter Tage: „Alarmstichwort: Person im Schacht“. Am 24. März 2019 kam es in Antonsthal zum Absturz einer betriebsfremden Person in einem seit Jahrzehnten stillgelegten Uranerzbergwerk. In der Folge entwickelte sich ein mehrstündiger Einsatz, bei dem die Höhenretter der Grubenwehr und Feuerwehr gemeinsam zum Einsatz kamen. Dieser umfasste die Suche, Rettung und den Transport des Verletzten in Grubenbauen, welche bereits seit den 1950er Jahren stillgelegt waren und alle Beteiligten an ihre physischen und technischen Grenzen brachte. Bei diesem „größten Einsatz seit über 20 Jahren“ galt es die Aktivitäten der Wismut-Grubenwehr mit der rund 100 Mann starken Mannschaft aus Bergsicherung, Feuerwehr, Höhenrettung und Bergwacht zu koordinieren. Andy Tauber berichtete anschaulich aus erster Hand über diesen herausfordernden Rettungseinsatz und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Vielen Dank dafür und „Glück auf!“ Andy Tauber ist Dipl. Ing. für Geotechnik und Bergbau, Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr sowie der Grubenwehr und verfügt über langjährige Erfahrung im Bereich Sanierung von Altbergbau. Seit 2019 leitet er das Grubenrettungswesen der Wismut GmbH.

Im Sinne des Wissensaustauschs und zum Wohle der „Industriekletterknochen“ stellten Maschinenbauingenieurin Lara Mundry und Knut Foppe, Sachverständiger für Sicherheit & Rettung an Windenergieanlagen, in Ihrem Beitrag „Gone with the Wind – vom Winde verweht: Strömungslehre für Industriekletterer“ das Thema mit großer Praxiszentrierung vor – selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit sondern als Denkanstoß zu verstehen. Energiewende und teures Bauland führen zu immer mehr hohen Türmen und Anlagen. Daraus resultiert eine Vielzahl von Arbeiten für Industriekletterer in exponierten Luftschichten. Erfahrende Seilzugangstechniker kennen das Gefühl vom Wind ergriffen zu werden und anschließend unsanften Turmkontakt erdulden zu müssen – signifikante Verletzungen nicht ausgeschlossen. Doch warum eigentlich? Wann tritt dieses Phänomen auf? Und kann man dagegen etwas tun? Theoretische Grundlagen der Strömungslehre kombiniert mit Datenauswertungen echter Einsätze, ergänzt durch Jahrzehnte an Erfahrung lieferten Antworten und Denkanstöße.

Ein herzliches Dankeschön den 13 Referentinnen und Referenten, allen Ausstellern, Förderern und Partnern für die große Unterstützung, ebenso dem engagierten Team vom HKK Hotel Wernigerode sowie den zahlreichen aus dem In- und Ausland angereisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die positive Resonanz.

Auf Wiedersehen beim 16. FISAT-Technikseminar® 2026.